Forschergruppe "Anfänge (in) der Moderne"
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Workshop "Anfang der Zeiten - Zeiten des Anfangs" (14.7.2006)

Workshop

Anfang der Zeiten · Zeiten des Anfangs

Anthropologische, philosophische und literarische Perspektiven

Französische Bibliothek des Instituts für Romanische Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Ludwigstraße 25/II. Stock

Koordination: Hendrik Birus, Bernhard Teuber, Günter Zöller

Programm:

9:15-9:30 Bernhard Teuber (Romanistik, Universität München): Statement zur Einführung

9:30-11:00 Norbert Bischof (Psychologie, Universität München): Zur Deutung der Weltentstehungsmythen

11:00-11:30 Kaffeepause

11:30-13:30 Félix Duque (Philosophie, Universidad Autónoma de Madrid): Über den Anfang – Schelling liest Johannes den Evangelisten (Philosophie der Offenbarung, Schellings Werke XIV, 104-117)

Respondent: Günter Zöller (Philosophie, Universität München): Ex aliquo nihil – Fichtes Anti-Kreationismus

13:30-15:30 Mittagspause

15:30-16:30 Henning Teschke (Romanistik, Universität Augsburg): Anfang als Differenz – Deleuze und Proust

16:30-16:45 Kaffeepause

16:45-17:30 Abschlussdiskussion mit Statements der Referenten

Die Veranstaltung ist öffentlich.

Wir bitten um Anmeldung bei Dr. Britta Brandt, unter Tel. 089/2180-2389 oder per E-Mail: Britta.Brandt@romanistik.uni-muenchen.de

Prospekt:

Als Augustinus sich im XI. Buch seiner Confessiones den Sinn des Genesis-Verses In principio creavit Deus caelum et terram (Genesis I,1) zu erschließen sucht, der seinerseits das Incipit zur jüdischen wie zur christlichen Bibel bildet, gelangt er zu dem Schluss, dass es vor diesem ‚Anfang‘ eine Zeit nicht gegeben haben könne: „Id ipsum enim tempus tu feceras, nec praeterire potuerunt tempora, antequam faceres tempora. Si autem ante caelum et terram nullum erat tempus, cur quaeritur, quid tunc faciebas? Non enim erat tunc, ubi non erat tempus.“ (XI,13,15.) Deutlich wird also an dieser berühmten Augustin-Stelle postuliert, dass die Zeit selbst einen Anfang haben muss, dass nicht nur unter den Verhältnissen der Zeitlichkeit immer wieder je neue Zeit-Takte beginnen, sondern dass diesseits der Ewigkeit die Zeit der Ordnung des Gewordenen und Geschaffenen angehört, will sagen: des Erdachten (conceptum), des Gestalteten (figuratum), des Modellierten (constructum).

Mircea Eliade zu Folge berichten über diesen ‚Anfang der Zeiten‘ die Mythen der unterschiedlichen Religionen und Kulturen. Es entspringt solch ein Anfang der Zeiten einer Konstellation, die in principio gegeben ist und von Eliade als ‚heilige Zeit‘ bezeichnet wird (Eliade: Le Sacré et le Profane). ‚Heilige Zeit‘ wäre damit zunächst nicht ein von ‚profanen‘ Zeitläuften unterschiedener Zeit-Takt, sondern der begründende ‚Anfang der Zeiten‘ überhaupt, wie er sich am Übergang von Zeitlosigkeit (Ewigkeit) zu Zeitlichkeit (Veränderlichkeit) darstellt. Zugleich aber – so Eliade – ist es innerhalb der ‚profanen Zeit‘ möglich, auf diesen mythischen Anfang zu referieren, ihn gewissermaßen ‚wiederzuholen‘ bzw. ‚wiederkehren‘ zu lassen. Dann wird die Achse der ‚profanen Zeit‘ zum mythischen Anfang der Zeiten gleichsam schleifenförmig zurückgebogen: Es formieren sich exotope Takte ‚heiliger Zeit‘ innerhalb der ‚profanen Zeit‘, die ebenso als Data des Eingedenkens (W. Benjamin) wie als je neue Anfänge zu verstehen sind. Diese den mythischen ‚Anfang der Zeiten‘ erinnernden, beschwörenden, wiederholenden Momente sind nun als ebensoviele ‚Zeiten des Anfangs‘ anzusehen. Was wie ein Singulare tantum erschienen war (‚Anfang der Zeiten‘) ist gleichwohl nur in seiner vervielfachenden Wiederkehr und Re-Inszenierung als Plurale tantum fassbar (‚Zeiten des Anfangs‘).

Ist bereits die kosmologische Zeit etwas (von Gott) Geschaffenes oder (im Prozess der Weltentstehung) Gewordenes (vor dem Big Bang war keine Zeit), so gilt dies potenziert für die den Menschen gegebene Zeit: Zeitlichkeit erscheint in der menschlichen Sphäre laut Henri Bergson in einer paradoxalen Doppelgestalt entweder als rein abstrakte ‚Zeit‘ (temps) oder als erlebte, wo nicht erfüllte ‚Dauer‘ (durée). In einer solchen Tradition vermag Cornelius Castoriadis zwischen einer ‚identitätslogischen‘ – das heißt: einer chronometrisch messbaren – und einer ‚imaginären‘ – das heißt: einer mental und kulturell konstruierten – Zeit zu unterscheiden. Doch gerade für die mental und kulturell konstruierte Zeiterfahrung (sowohl des Individuums als auch des Kollektivs) ist der Rekurs auf überlieferte oder je neu zu erfindende Modelle eines ‚Anfangs der Zeiten‘ sowie die Anlehnung an je unterschiedlich semantisierte und periodisierte ‚Zeiten des Anfangs‘ konstitutiv. ‚Anfang der Zeiten‘ und ‚Zeiten des Anfangs‘ stehen demnach nicht nur in einem Verhältnis der Antinomie zueinander, sondern sie scheinen zugleich auch chiastisch miteinander verschränkt zu sein.
Der von der DFG-Forschergruppe Anfänge (in) der Moderne ausgeschriebene Workshop möchte den hier skizzierten Fragen nachgehen und an Hand von Beiträgen und konkreten Fallbeispielen aus unterschiedlichen Wissenschaftsprovinzen deren anthropologische, (geschichts-)philosophische und kultur- bzw. literaturgeschichtliche Dimensionen diskutieren.

Bernhard Teuber